Freitag, 30. Mai 2014

Die Parabel vom verzogenen Kind

Es war einmal ein Mann; seinen Namen wollen wir noch nicht verraten. Der ging zum lieben Gott und beschwerte sich, diese Erde sei nicht gut genug für ihn, er wollte einen Himmel haben mit Perlentoren. 
Da deutete der Liebe Gott auf den Mond am Himmel und fragte, ob das nicht ein ganz gutes Spielzeug sei, aber der Mann schüttelte den Kopf. Da wies Gott auf die blauen Berge in der Ferne und fragte den Mann, ob er ihre Linien nicht schön fände, aber er antwortete: Nein, er finde sie langweilig und nicht besonders. Nun zeigte ihm Gott die Orchideenblüte und das Stiefmütterchen und hieß ihn mit dem Finger leicht über das sanfte Blütenkissen hinstreichen und fragte, ob das nicht ein köstliches Farbenwunder sei, aber der Mann sagte kurz angebunden: "Nein!" In seiner unendlichen Geduld führte Gott ihn ins Aquarium und zeigte ihm die prächtigen Farben und Formen der Südseefische, aber der Mann versetzte, das interessiere ihn nicht. So führte ihn Gott unter einen schattigen Baum und ließ einen kühlen Lufthauch wehen und fragte, ob das nicht eine Wohltat sei, aber der Mann entgegnete, ihm sage es nicht viel. Nun führte Gott ihn an einen lichten Bergsee und wies ihm das Wasser, das Geräusch des Windes im knarrenden Kiefernwald, die stille Größe der Felsen und den prächtigen Widerschein auf dem See, aber der Mann sagte, aufregend finde er das alles nicht.
Darüber kam Gott auf den Gedanken, daß dieses sein Geschöpf offenbar nicht von sanfter Gemütsart sei und krassere Anblicke wünsche, und so nahm er ihn mit sich auf den Gipfel des Felsengebirges und in die Schlucht des Grand Cañon, führte ihn in Stalaktitenhöhlen, an Geyser und auf Sanddünen, in den Schnee des Himalaja und unter den Wassersturz des Niagarafalles und fragte ihn, ob er denn nicht wahrlich alles getan habe, um diese Erde für die Augen und Ohren und den Bauch des Menschen reich und herrlich zu bestellen. Aber der Mann barmte immer noch nach seinem Himmel mit Perlentoren. "Diese Erde", sprach er, "ist nicht gut genug für mich." - "Du anmaßende, undankbare Brut!" sagte der liebe Gott. "Wenn diese Erde nicht gut genug für dich ist, will ich dich in die Hölle schicken, da sollst du keine ziehenden Wolken und keine blühenden Bäume mehr sehen und keinen Bach mehr rauschen hören, und so sollst du leben bis ans Ende deiner Tage." 
Und Gott schickte ihn in die Großstadt, daß er da lebe in einer Mietskaserne. Sein Name war Christenmensch.

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